Diese Kurzgeschichte basiert auf einer Schreibaufgabe aus dem Seitenwind-Wettbewerb 2023 vom Papyrus Autor Forum. Viel Spaß beim Lesen!
Ich hörte den Stacheldraht rascheln und ahnte schon, dass ich heute nicht mehr schlafen würde. Meistens verschwanden die Halbstarken wieder, die es geschafft hatten, die Mauer meines Grundstücks zu erklimmen, aber heute sah ich, wie zwei Jungen und ein Mädchen in meinen Vorgarten sprangen. Man kann es übertrieben finden, dass ich einen Parkplatz als Vorgarten bezeichne, aber seit es die Salzbüsche geschafft hatten, durch die Risse im Asphalt zu sprießen, nannte ich ihn so. Kaum waren die drei Eindringlinge aus dem Blickfeld der Kamera an der Einfahrt verschwunden, tauchten sie im Treppenhaus wieder auf. Nichts hinderte sie. Das Alarmsystem der Notausgänge funktionierte schon lange nicht mehr – zumindest nicht mehr, seit die ersten Bomben gefallen waren. Vor dem Krieg hatten meinesgleichen und ich auch noch nicht geahnt, dass wir für Menschen gefährlich sein könnten. Sicherlich hatte der eine oder andere Angestellte mich schon als Mordinstrument missbraucht, allerdings immer mit einem Sprung vom Dach oder einem beherzten Schritt aus dem Fenster. Doch nachdem die erste Explosion einen Teil meiner einst so stattlichen Fassade beschädigt hatte, hörten die Menschen in meiner Nähe nicht mehr auf zu husten. Viele von ihnen spuckten plötzlich Blut, bis sie zusammenbrachen. Ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr mich das schockierte. Meine Nachbarn berichteten von ähnlichen Szenen. Es dauerte ein paar Wochen, bis eine Gruppe Menschen in Schutzanzügen die Trümmer meiner Fassade untersuchten. Das, was sie miteinander besprachen, war niederschmetternd. Obwohl ich ein Trendsetter in Sachen Wärmedämmverbundsysteme gewesen war, musste ich erkennen, dass gerade der bahnbrechende Thermoputz mit Nanotechnologie ein echtes Problem darstellte. Der Schaum, der über Jahrzehnte hinweg die klimatischen Eigenschaften meines Innenraums regulieren sollte, war schon nach sechzig Jahren porös geworden und jeder Mensch, der seinen Nanostaub einatmete, trug schwere Folgen davon. Meine Fassade war also ein gefährliches Experiment und nicht der versprochene Durchbruch in der Materialforschung. Aus diesem Grund hatte man die gesamten Raven Quarters zur Sperrzone erklärt.
In der heutigen Nacht hatten es die drei Teenager scheinbar darauf abgesehen, sich in Vandalismus zu üben. Sie schleuderten Bürostühle gegen die letzten intakten Verglasungen der Stillarbeitsplätze und versuchten sich daran, einen der Sprinkler durch Zigarettenrauch auszulösen. Natürlich gab es schon lange kein Wasser mehr in den Leitungen. Ich seufzte innerlich. Irgendwie musste ich sie verscheuchen, bevor sie auf die Idee kämen, die Nordseite zu besuchen. Dort lagen die meisten der todbringenden Fassadentrümmer . Viel von meiner Haustechnik – damals der letzte Schrei in Richtung SmartOffice – war mir nicht geblieben, also versuchte ich es mit den Jalousien. Hakelnd ließ ich sie hoch- und runterfahren. Die drei ungebetenen Gäste hielten plötzlich inne und horchten auf.
Der Junge mit der Zigarette schaute sich entgeistert um. »Wieso gibt’s hier noch Strom?«
»Das ist bestimmt ’n Solar-Dings auf’m Dach«, erklärte das Mädchen angestrengt, »mit Batterie und so.«
Der zweite Junge streckte die Hand nach meiner Jalousie aus und versuchte, seine Kräfte zu messen, indem er sie unten festhielt. Da mir nichts Besseres einfiel, ließ ich sie so weit wie möglich herunterfahren.
Schockiert über die Kraft der Motoren zog er seine Hände weg und wich zurück. »Scheiße, was soll das denn?!«
Natürlich hätte ich ihm nicht die Finger eingeklemmt, aber ich musste diese armen Tunichtgute irgendwie loswerden.
»Mann, stell dich nich’ so an!«, belehrte ihn der Zündler.
Die kurze Pause nutzte ich für mein zweites Kunststückchen: Bis auf die großen Pendelleuchten über den Konferenztischen, die einen zu hohen Einschaltstrom hatten, aktivierte ich mit einem Mal sämtliche Beleuchtung im Großraumbüro. Die Teenager erstarrten und schützten ihre auf die Dunkelheit adaptierten Augen vor dem grellen Licht. Sie rannten in den Flur, vermutlich im Glauben, ein Security hätte sie entdeckt. Nur leider in den falschen.
Ich gab ein paar wüste Flüche von mir, die ich aus diesem Protokoll gelöscht habe. Das Mädchen und der Junge, den ich mit der Jalousie überrascht hatte, gelangten als erste zum großen Loch in der Nordseite. Sie machten bereits Anstalten, über die Fassadentrümmer zu klettern, um auf das Dach der Eingangslobby zu springen. Wenn es doch nur regnen würde! Aber ich wusste, dass es an meinem Standort fast nie regnete. Die Wetterstation auf dem Dach registrierte 18°C bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 29 % – keine Chance auf Niederschlag. Als der Junge mit den Zigaretten zu seinen Mitstreitern aufschloss, stolperte er so ungeschickt über ein Kabel, dass er mitten in einen Haufen der Bruchstücke fiel. Ich sah die riesige Staubwolke, die er dabei aufwirbelte. Eingehüllt von den silbrig glänzenden Partikeln musste er immer wieder husten und rappelte sich auf.
Das Mädchen, das inzwischen den Vorgarten erreicht hatte, wedelte mit der Hand gegen den Staub, den ihr Komplize wie eine Schleppe mit sich trug. »Mann, ey! Was’n mit dir passiert?« Auch sie hustete.
Ich beobachtete, wie sich das Dreiergespann mühsam über die Mauer kämpfte. Der Junge, immer noch silbern glänzend, verließ als letzter mein Grundstück, aber er würde als Erster die Folgen spüren.
Sie konnten nicht weit gekommen sein, da hörte ich ein entsetztes Kreischen: »Ist das Blut?!«
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